Gymwelt, Kinderturnen, Turnen

 
Gauturntag 2017

20. Mai, Sportzentrum TuS Bommern, Witten

(Demographischen) Wandel im Sportverein gestalten

Festrede von Dirk Engelhard

Liebe Turnerinnen und Turner,
über den „demographischen Wandel“ ist in den letzten Jahren schon viel geschrieben und gesprochen werden. Aus diesem Wandel ergeben sich Konsequenzen für die Entwicklung der Städte und Stadtteile, Dörfer und „Quartiere“, in denen wir leben - für unser Zusammenleben, für die Gemeinschaft. Und deshalb müssen wir auch konkret darüber nachdenken, was das für die Entwicklung des Sports und der Sport- und Bewegungsangebote bedeutet, für die Vereinsentwicklung und insbesondere für die Turnvereine.
Dazu ein paar Gedanken und Impulse:

  1. Ein Turntag ist ein „MEILENSTEIN“, ein Zeitpunkt, an dem wir zurückschauen, uns orientieren und neu aufbrechen um die nächste Wegstrecke zurückzulegen. Genauso wie beim Wandern: der Meilenstein als Ziel für eine Rast, ein Besinnen, ein Ausruhen - und dann geht es mit frischen Kräften weiter. Aber heute kommen selbstverständlich (fast) alle mit dem Auto zum Gauturntag, das Navi führt uns an den richtigen Ort. Selbst beim Wandern und Radfahren wird inzwischen häufiger ein Navi eingesetzt. Wir lassen uns führen. Aber wer bestimmt und beeinflusst eigentlich die Richtung und den Weg in unserem Verein? Die Entwicklung von (neuen) Bewegung-, Spiel-, Sport- und Turnangeboten? Oder die Entwicklung von geselligen Angeboten und Treffs?
    Lasst uns doch jetzt hier und vielleicht auch häufiger in unserem Verein mal gedanklich eine Pause machen und aus einer „Vogelperspektive“ darauf schauen:
    a) was in den letzten Wochen oder Monaten im Verein oder im Stadtteil oder Dorf, in unserem „Quarttier“, passiert ist - kurzer Rückblick
    b) uns besinnen auf das, was wir im Verein oder in der Abteilung anbieten und was gut läuft - unsere Stärken, über die wir uns freuen können
    c) auf das Navi schauen - und klären, wo wir eigentlich hin wollen, wo die Ziele sind, was sich entwickeln soll und was verbessert werden kann und dann
    d) nach vorne sehen und konkret planen, wie wir unserer Arbeit im Verein in den kommenden Jahren gestalten, welche „Meilensteine“ wir anstreben, wann wir deren Erreichen überprüfen und welche Bedeutung der demographische Wandel für uns, für unseren Verein und für unsere Bewegungs-, Sport- und Turnangebote hat.
  2. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Prognosen und vielen Veröffentlichungen lassen sich relativ verlässlich für (fast) alle unsere Städte, Gemeinden, Ortschaften und Quartieren einige Entwicklungen ableiten:
    a) Wir werden in den nächsten Jahren „WENIGER“ werden: die Bevölkerungszahlen nehmen trotz langsam wieder steigender Geburtenraten, trotz der Zuwanderung und der Flüchtlinge ab.
    b) Wir werden „ÄLTER“ werden: jede und jeder Einzelne wird deutlich älter - Mädchen, die heute hier in Deutschland geboren werden, haben gute Chancen 100 Jahre und älter zu werden; der Anteil der Älteren und Hochaltrigen nimmt deutlich zu - 2050 wird es mehr 82jährigen Frauen geben als Männer oder Frauen in irgendeinem anderen Jahrgang; die Älteren und Hochaltrigen sind die einzige noch wachsende Bevölkerungsgruppe.
    c) Wir werden „BUNTER“ werden: vielfältige kulturelle und technische Entwicklungen beeinflussen uns, unterschiedliche Kulturen, Werte, Religionen, neue Medien, Einstellungen und Verhaltensweisen stoßen aufeinander und bieten eine große kaum noch zu überblickende Anzahl an Möglichkeiten und Alternativen; das „Navi“ und andere neue Medien zeigen so viele Wege und kulturelle Vielfalt, dass wir die kaum noch überblicken können - und manche werden auch auf Abwege oder in Orientierungslosigkeit geführt.
  3. Aber was bedeutet dieser Wandel eigentlich konkret für uns und unseren eigenen Turn- und Sportverein? Wir alle haben den Anspruch „gemeinwohlorientiert“ zu arbeiten, deshalb sind Sportvereine „gemeinnützig“ und erhalten steuerliche und andere Vorteile. Deshalb sollten wir auf ALLE unsere Vereinsmitglieder schauen und auf deren vielfältige Erwartungen und Wünsche an den Verein und auf deren ÄLTERWERDEN. Aber wir sollten auch auf ALLE Menschen im Quartier, im Einzugsbereich unseres Vereins sehen - und auf deren Bewegungswünsche oder Bewegungsmängel. Dazu lassen sich leicht verschiedene Zielgruppen unterscheiden. Der Landessportbund NRW unterscheidet in seinem Programm „Bewegt ÄLTER werden in NRW!“ (BÄw) nach einem Lebensphasenmodell:
    a) Kinder und Jugendliche: Diese zu betrachten ist ein separates Thema. Unterschieden werden kann dabei noch zwischen Kleinkindern mit ihren Eltern, Kindergarten- und Schulkindern in den unterschiedlichen Schulformen und den Kooperationen des Sports mit diesen Einrichtungen.
    b) junge Erwachsene im Alter von ca. 25 bis 45 Jahre: Diese Phase ist geprägt durch Berufsfindung, Singles, Familie, jüngere Kinder. Als Bewegungsangebote werden zum Beispiel gewünscht: Wettkampf- und Leistungssport, Sportarbeiten, Fitness und Bodybuilding, Angebote für Familien.
    c) mittleres Erwachsenenalter ca. 40 - 66 Jahre: Erwerbsphase, etabliert, ältere Kinder; Beispiele für besondere Wünsche an Bewegungsangebote: Fitness, Outdoor, aktive Freizeitgestaltung, Laufen, Gesundheit, Prävention.
    d) ältere Erwachsene im Alter ab ca. 60 bis 66 Jahre: Übergang aus dem Beruf in aktive Nach-Erwerbszeit mit besonderen Wünschen zu Fitnessangeboten, Prävention, Rehasport und zu Bewegung, die bis ins hohe Alter verwirklicht werden kann wie zum Beispiel Prellball, Golf oder Boule.
    e) hochaltrige Erwachsene im Alter ab ca. 80 Jahre, wenn die Bewegungs- und Leistungsfähigkeit deutlich nachlässt und altersbedingte körperliche Einschränkungen zu Anpassungen des Alltagslebens zwingen. Besonders gewünscht werden dann Angebote zum Erhalt oder zur Wiederherstellung der Alltagsmobilität und zur Geselligkeit und zu sozialen Kontakten.
    Wenn der Sport seine Gemeinwohlorientierung ernst nimmt, dann sollten von den Vereinen in jedem Quartier Bewegungsangebote für die Menschen in allen Lebensphasen gemacht werden - und zunehmend mehr für Ältere und Hochaltrige, weil diese Bevölkerungsgruppen deutlich zunehmen.
  4. Nach der „Bewegungs- und Leistungsfähigkeit“ können beispielsweise drei Stufen unterschieden werden:
    a) das MOBILSEIN, die Alltagsmobilität und die Bewegungsfähigkeit um überhaupt aktiv sein zu können
    b) das FITSEIN mit deutlich höheren Ansprüchen an die Bewegungs- und Leistungsfähigkeit und
    c) das SPORTLICHSEIN im engeren Sinne mit Wettkampf- und Leistungsorientierung.
  5. Zu den Stufen Mobil- und Fitsein gibt es übrigens inzwischen einen praxiserprobten Test, der auf Bundesebene entwickelt wurde und zuz dem Materialien im Internet zur Verfügung stehen: der Alltags-Fitness-Test (AFT). Und zu den Stufen Fit- und Sportlichsein eignet sich das Deutsche Sportabzeichen (DSA) sehr gut als Testinstrument. Das DSA ist übrigens inzwischen über 104 Jahre alt und würde grundlegend reformiert. Es eignet sich inzwischen sehr gut als Vereinsangebot, wenn ergänzend zu den DSA-Treffs auch Kurse oder Übungsstunden angeboten werden. Leider werden besonders die turnerischen Übungen relativ selten abgenommen. Über Kinderbewegungsabzeichen im Vorschul- und Grundschulalter oder Sportabzeichen-Angebote in Kooperation von Schulen und Vereinen und/oder im Ganztag könnte zum DSA noch viel entwickelt werden um die WENIGER werdenden Kinder und Jugendlichen zu Bewegung, spiel, Sport und Turnen hinzuführen, sie zu begeistern und eine Perspektive zu einem lebensbegleitenden Angebot zu eröffnen, den das DSA wird auch von vielen Älteren und Hochaltrigen noch abgelegt.
  6. Neben der Bewegungs- und Leistungsfähigkeit erscheinen mir drei andere Aspekte wichtig:
    a) Das GEMEINSAM-ÄLTER-WERDEN mit sozialen Kontakten -auch im Sportverein!- und mit generationsübergreifenden Angeboten - wie z.B. das Sportabzeichen. Dazu gehören aber auch Vereinsfeste, Treffs und viele andere Möglichkeit im Verein, im Quartier oder in der Zusammenarbeit mit anderen Wohlfahrtsorganisationen oder Kirchen. Dazu gleich mehr Details beim Thema Quartiersentwicklung.
    b) Das ENGAGIERT-ÄLTER-WERDEN wird meines Erachtens zu einem zunehmend überlebens-wichtigen Thema; denn erstens werden die Älteren in den Vereinen -und in anderen gesellschaftlichen Organisationen!- zunehmend als Ehrenamtliche und Freiwillige benötigt, weil Jugendliche und jüngere Erwachsene immer weniger Zeit zum bürgerschaftlichen Engagement haben oder sich diese nehmen wollen. Zweitens belegen Untersuchungen und Erfahrungen, dass Ältere, die sich engagieren, die „Gutes für andere“ tun, die „Sinnvolles tun“, selber viel zufriedener sind und ihre eigene Gesundheit und Lebensqualität deutlich höher einschätzen als Menschen, die sich nicht engagieren. Professor Klaus Dörner hat das mal kurz zusammengefasst so formuliert: „Ältere Menschen werden hilfsbedürftiger, sie benötigen Unterstützung und Pflege. Sie werden aber auch helfensbedürftiger, sie wollen anderen helfen, etwas für andere tun.“ - und auch ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben.
    c) Qualifizierte Übungsleiter/innen und Trainer/innen sind notwendig, damit gute Angebote auch gut verwirklicht werden können. Auch Ältere sind als Übungsleiter geeignet und können sich noch qualifizieren. Aber dazu muss das Qualifizierungssystem des Sports in NRW sich auch auf ältere und hochaltrige Menschen einstellen. Denn Ältere lernen anders als Jüngere. Aus der „Geragogik“ kommen viele Impulse abgeleitet werden, was und wie Ältere anders lernen können.
  7. Einen besonderen Bezug möchte ich zum QUARTIER und zur QUARTIERSENTWICKLUNG herstellen, denn je näher Menschen betroffen sind, desto eher sind sie auch bereit sich für andere zu engagieren: Eltern übernehmen am ehesten Aufgaben im Verein, wenn es um Ihre Kinder geht; (ehemalige) Leistungssportler, wenn es um Ihre Sportart geht; Bürger/innen, wenn es um ihr eigenes Wohnumfeld geht. Außerdem ist das Quartier in der Landespolitik zu einem Thema geworden, das Ministerien übergreifend bearbeitet wird, und auch für Kinder und Ältere hat es eine besondere Bedeutung: je jünger und je älter die Menschen sind, desto geringer ist ihre Mobilität und desto mehr sind sie auf Angebote angewiesen, die fußläufig erreichbar sind - eben im Quartier. Das gilt auch für Bewegungsangebote und für die „bewegungsfördernde Infrastruktur“, also die Bewegungsgelegenheiten und die Gestaltung eines Quartiers. Welche Angebote sind tatsächlich erreichbar? Was funktioniert gut? Was könnte verbessert oder zusätzlich angeboten werden. Mit Hilfe einer „Matrix“ (siehe Anhang) haben wir solche Fragen bereits mit einigen Vereinen und für einige quartiere diskutiert und Impulse zu neuen Bewegungsangeboten gegeben. Solche werden übrigens auch über den Landessportbund gefördert, zum Beispiel neue Angebote zum „Gemeinsam sportlich sein“ (GSS) in Kooperation mit der Sparda-Bank West e.G. oder Kooperationsangebote zu „Bewegenden Alteneinrichtungen und Pflegedienste“ (BAP).
  8. Wir werden BUNTER. Das heißt, dass sich Bevölkerungsstrukturen und Werteorientierungen verändern, Lebensstile und Freizeitgestaltung, Einstellungen und Verhaltensweisen. Das kann dann zur Folge haben, dass zum Beispiel Kirchengemeinden überhaupt nicht mehr die Funktion der Begegnung und der „Sozialen Heimat“ oder den Kontakt zu Älteren und Hochaltrigen haben wie das früher häufig der Fall war. Das führt aber auch dazu, dass Bindungen zu Sport- und Turnvereinen und zu den Sportarten und Fachverbänden sich grundlegend verändern. Vor 60 Jahren gingen Kinder vielerorts selbstverständlich zum Kinderturnen - häufig gab es auch kaum andere Angebote - und wer einmal vom Turnen infiziert war, fühlte sich oft lebenslang als Turner/in. Heute ist das völlig anders: vielfältige Angebote von Sportvereinen, Wohlfahrtsverbänden, Schulen, kommerziellen Anbietern und anderen konkurrieren miteinander. Qualität und Kosten sind für die Teilnahme entscheidend. „Vereinsmeierei“ wird eher abgelehnt. Im Fußball gibt es viele Fans, die für diesen Sport und „ihren“ Verein fiebern und sich engagieren. In fast allen anderen Sportarten und offensichtlich besonders bei Turnvereinen gehen solche Bindungen verloren. Die Mitglieder sehen den Verein als Dienstleister, sie fühlen sich als „Turner/innen“, denen die Mitgliedschaft im Turngau oder im Turnerbund wichtig ist. Immer mehr Vereine melden deshalb nicht nur ihre passiven Mitglieder, sondern auch diejenigen, denen die Verbandszugehörigkeit gleichgültig ist, an die Fachverbände, bei denen die Mitgliedschaft wenig kostet. Das führt zu Verzerrungen in der Bestandserhebung und zu sachlich ungerechten Förderungen. Über Mitgliedschaftsmodelle muss auch deshalb nachgedacht werden.
  9. Der Turnerbund und der Turngau, die zuständigen Stadt- und Kreissportbünde und der Landessportbund NRW unterstützen die Turn- und Sportvereine, damit diese zeitgemäße qualifizierte Bewegungsangebote vor Ort gestalten können und sich auf den Wandel einstellen. Durch Qualifizierungen, Beratungen, Workshops und Förderpläne, z.B. zu den Programmen „Bewegt ÄLTER werden in NRW“ oder „Bewegt GESUND bleiben in NRW!“ soll das erreicht werden. Aber tatsächlich verwirklicht und gestaltet werden muss das von den Vereinen vor Ort.
  10. Dazu zum Abschluss drei Wünsche:
    1. Tut das Richtige: Stellt das Navi für Euren Verein und Eure Bewegungsangebote auf die richtigen Ziele ein! Auf das, was zum Verein, zu seinen Mitgliedern und zum Quartier passt. Die Orientierung der Turner heißt „frisch, fromm, fröhlich und frei“. Bei Turnvater Jahn hieß es übrigens noch „frisch, frei, fröhlich und fromm“. Passt das noch? Müssen die Angebote der Vereine aufgrund des demographischen Wandels heute nicht vielleicht frisch, frei, fröhlich, vielfältig, vor Ort im Quartier und besonders für Ältere und Hochaltrige gestaltet werden?
    2. Macht das Richtige richtig: nutzt das Wissen und die Erfahrungen im Verein, aus dem Turnerbund, aus den Qualifizierungsangeboten oder lasst Euch vor Ort informieren und beraten. Die Stadt- und Kreissportbünde und der Turnerbund bieten auch die Unterstützung an, mal aus einer „Vogelperspektive“ auf den Verein und seine Angebote zu schauen.
    3. Tut das Richtige auch tatsächlich. Es ist gut mal über den Wandel zu reden, aber viel wichtig ist es, ihn zu gestalten. Das ist notwendig. Dazu wünsche ich Euch viel Erfolg - heute hier beim Gauturntag und vor allem in Euren Sport- und Turnvereinen.

Glückauf!

Dirk Engelhard
Vorstandsvorsitzender des KreisSportBundes Ennepe-Ruhr

Dirk Engelhard

Dirk Engelhard ist Vorsitzender des Kreissportbundes Ennepe-Ruhr

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